Risk Assessment (RA)* - ein vielfach ungenutztes Instrument zur Beurteilung von mikrobiologischen Befunden in der Pharmazeutischen Industrie – Teil 1
* Hier nicht zu verwechseln mit den RMP – Risikominimierungspläne im Rahmen der Pharmakovigilanz
Risikobewertungen/Risk Assessment (RA) sind in aller Munde. Ob im Pharma- oder im Lebensmittel- und Kosmetikbereich. Eine eigene Bundesoberbehörde mit fast 1000 Mitarbeitenden, das BfR – Bundesinstitut für Risikobewertung – trägt den Begriff im Namen. Definitionen wechseln den Besitzer, wenn es um die meist theoretische Hinführung zum Thema geht. Unsere verschobene Wahrnehmung charakterisiert vielleicht besonders schön ein Bonmot von Prof. Dr. Dr. Andreas Hensel, dem BfR-Präsidenten: er spricht von der „Angst des westeuropäischen Kettenrauchers, an einem Schlangenbiss zu verenden“.
In der Praxis hat man häufig die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das ist z. B. die gebeutelte Qualified Person, die ja in vielen Fällen trotz aller assekurantischer Abgrenzungsbemühungen per Durchgriff bis in das Privatvermögen hin haftet. QPs neigen - insoweit sie pharmazeutisch sozialisiert sind – naturgemäß nicht zum Risiko. Folge: lieber eine Charge abschreiben, als „unter Schmerzen“ in den Verkehr zu bringen (Stichwort: Restrisiko). Diese grundsätzliche Haltung pro Arzneimittelsicherheit und pro Patient ist sicher zu begrüßen, lässt aber außer Acht, dass die Akteure in der Pharmawelt vielfach sonstige Risiken, wie sie sich z. B. durch globale Arbeitsteiligkeit und Lieferketten ergeben, ausblenden (müssen), nicht zuletzt durch betriebswirtschaftliche Zwänge. Die Berichte von aufgedeckten GMP-Mängeln im Rahmen der Inspektionstätigkeit verschiedener Behörden (z. B. über www.gmp-navigator.de) geben hier beredt Zeugnis.
Welche Gründe lassen sich ansonsten für eine Zurückhaltung der Rechtsunterworfenen im Pharmabereich gegenüber der Anwendung von Risk Assessments (RA) aufführen? (s. Tab. 1)
Befund | Grund | (Historischer) Hintergrund |
Mangelnde Kenntnis des Pharmazeutischen Unternehmers über behördliche personale + fachlich prozedurale Verantwortlichkeiten, z.B. im BfArM, Bonn | Wichtigkeit wird nicht wahrgenommen | Überbetonung der Objektivität aller Entscheidungen |
personenbedingt | Häufiger wahrgenommene Persönlichkeitsmerkmale bei ApothekerInnen, Angst vor dem Scheitern | Schiere Masse der prüfungsrelevanten Studieninhalte, mangelnde Resilienz |
Persönliche Haftung der Verantwortungsträger, z. B. der QPs | Laufende regulatorische Verschärfungen, Aufgabenanreicherung | Contergan-Skandal, anhängige Klagen wegen belastetem Valsartan (GUARDIOLA 2025) |
Angst vor Veröffentlichung | „Freedom of Information“ („Das Internet vergisst nicht“) | Informationssteuerung z.B. im Internet oder Social Media ist fast nicht möglich, stattdessen Internetpranger |
Analytische Verschärfung | Verbesserte Methoden und Analysengeräte | Fortschritt, kein adäquates Mithalten der Erkenntnis |
Sinkende persönliche Risikobereitschaft der Verantwortungsträger und der Überwachung | Betriebswirtschaftliche Konzentrierung (größere Einheiten), komplizierte Entscheidungsfindung, Schreckgespenst Amtshaftung | Kommunizierte Skandale, auch aus anderen Wirtschaftsbereichen, auch z.B. Amtshaftung beim sog. BIRKEL-Nudel-Salmonellen- oder EHEC-Skandal, laufendes Verfahren Großmetzgerei Siebert (Listeria monocytogenes) |
Tab. 1: Risk Assessments (RA): Gründe für Zurückhaltung der Pharma-Industrie (persönliche Zusammenstellung und Wertung des Autors)

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Regulatorischer Hintergrund der Bewertung des mikrobiologischen Status von Fertigarzneimitteln
Wichtig ist, dass das Arzneibuch tatsächlich eine Möglichkeit offeriert, jenseits der dort festgeschriebenen Methoden und
Limite Alternativen einzusetzen. Zur Beurteilung der mikrobiologischen Qualität nicht-steriler, pharmazeutischer Zuberei-tungen und Substanzen wird grundsätzlich Kapitel 5.1.4 (Pharm. Eur.) herangezogen.
Dort ist ausgeführt:
„zusätzlich zu den in Tab. 5.1.4.-1 (Akzeptanzkriterien) aufgelisteten Mikroorganismen wird die Bedeutung, die der Anwesenheit anderer nachgewiesener Mikroorganismen beigemessen wird, nach den folgenden Gesichtspunkten beurteilt:
- Verwendung des Produktes: Das Risiko ändert sich je nach Applikationsort (Auge, Nase, Respirationstrakt)
- Art des Produktes: dessen Fähigkeit, mikrobielles Wachstum zu fördern; angemessene antimikrobielle Eigenschaften
- Art der Verabreichung
- Vorgesehene Empfängergruppe: Das Risiko für Neugeborene, Kleinkinder und Geschwächte kann unterschiedlich sein.
- Anwendung von Immunsuppressiva, Kortikosteroiden
- Vorliegen von Krankheiten, Wunden, Organschäden. - Falls begründet, findet unter Abwägung des Risikos eine Bewertung der in Frage kommenden Faktoren statt. Diese Bewertung muss von Personal durchgeführt werden, das über eine Ausbildung in mikrobiologischer Analytik und der Auswertung mikrobiologischer Daten verfügt.
- Für Ausgangsstoffe werden bei der Bewertung die Behandlung, der das Produkt unterworfen wird, die gegenwärtigen Kontrolltechniken und die Verfügbarkeit der Materialien in der gewünschten Qualität berücksichtigt.“
Siehe auch SUTTON (2006) und BECKMANN (2015).
Nach eigener Recherche wird das Instrument in der Bundes-republik Deutschland allerdings selten eingesetzt, um etwaige Abweichungen, die die Arzneimittelsicherheit nicht beeinträchtigen, rational zu begründen. Autorenseitig wurde hier in einem Fall der Beleg geführt, dass z. B. die Arzneibuch-Methode zur Zählung der sog. galletoleranten gramnegativen Bakterien vermittels des Probable Number-Verfahrens (PN-Verfahren) keine validen Ergebnisse liefert, sodass hier einer lebensmittelmikrobiologischen Methode der Vorrang zu gewähren ist (BECKMANN et al. 2014). Zudem konnte schon zuvor der Beweis erbracht werden, dass die unter dem vorgenannten Begriff subsummierte Mikroflora zur pflanzentypischen, sog. autochthonen Besiedlung gehört (BECKMANN et al. 2011), eine umfangreiche Risikobewertung aller nachgewiesener Taxa initiiert und schlussendlich eine Limiterhöhung gerechtfertigt war (interne Daten unveröffentlicht). Diese Änderungsmeldung wurde seitens der nationalen Zulassungsbehörde akzeptiert.

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Kritische Wertung des Arzneibuchtextes
1. Die zitierte Formulierung unter a.-c. (s. u.) kann nur selten „entkräftet“ werden und muss daher immer berücksichtigt werden, da ja das Argument im Prinzip zieht, dass es sich bei der Zielgruppe für Arzneimittel-Applikationen häufig bis immer um die unter a.-c. genannten Personenkreise bzw. Konstellationen handelt.
- Vorgesehene Empfängergruppe: Das Risiko für Neugeborene, Kleinkinder und Geschwächte kann unterschiedlich sein.
- Anwendung von Immunsuppressiva, Kortikosteroiden
- Vorliegen von Krankheiten, Wunden, Organschäden.
2. Viele Risikobewertungssysteme z. B. in der Toxikologie rechnen einen erheblichen Sicherheitsfaktor ein. Dieser beträgt je nach System und Risikobereitschaft des Risikobewerters Faktor 10 bis 100.
3. Es wird arzneibuchseitig verlangt, dass eine Bewertung durch Personal zu erfolgen habe, „das über eine Ausbildung in mikrobiologischer Analytik und der Auswertung mikrobiologischer Daten verfügt.“ – Nach Kenntnis des Autors wird in Deutschland trotz seiner ca. 12.000 Studiengänge weder mikrobiologische Analytik noch gar die Königsdisziplin, die Auswertung mikrobiologischer Daten, gelehrt. Hier sind allenfalls Fachleute rekrutierbar, die studienseitig eine solide theoretische und laboratoriumspraktische Ausbildung in Bakteriologie und Mykologie, diagnostische Erfahrung (!) und praktische Erfahrung mit der Auswertung mittels (halb-) automatischer konventionell-biochemischer, molekularbiologischer und/oder von MALDI-TOF-Verfahren besitzen. Es ist zwingend notwendig, sich mit in den Auswertetools verwendeten Datenbanken, Algorithmen und der generellen Wertigkeit einzelner Reaktionen sowie der Taxonomie zu beschäftigen. Des Weiteren bedarf die Diagnosestellung aus Gründen der Qualitätssicherung eines finalen Plausibilitäts-Checks, zeigt doch die Laborpraxis, dass „Papier“ oder „elektronische Daten“ geduldig sind.
Tipps für die Durchführung von Risk Assessments (RA)
Thema/Frage/Aspekt | Grund |
Welcher Keim wurde isoliert? | Identifizierung kritisch werten!
|
Neuere Änderungen in der Taxonomie | Recherche in einschlägigen Datenbanken Versuch einer Zuordnung der bekannt gewordenen klinischen Fälle |
Historie des betroffenen Produktes | Historische Daten bei Wirkstoffen, Bulk und Endprodukt sowie im Monitoring auswerten! Etwaige Änderungen im Prozess? Lohnherstellung? |
Art und Anwendung des Produktes | s. Ph. Eur. 5.1.4. (s.o. im Beitrag) Einordnung in die mikrobiologisch-infektiologische Bewertung einfließen lassen |
Keimzahl |
|
Konservierungsbelastungstest | Hinweise auf etwaige „Schwächen“ Wurden Hausisolate getestet? |
Ausführliche mikrobiologisch-infektiologische Bewertung | Vermehrung im Produkt möglich? Produktverderb möglich? Recherche in einschlägigen Datenbanken, Publikationen und Fachbüchern unter Berücksichtigung der neueren Taxonomie |
Tab. 2: Wesentliche Themen/Fragen, die im Rahmen eines RA jenseits der Anwendung einer bestimmten Methodik aus Sicht des Autors schriftlich beantwortet werden müssen
Der Blick über den Tellerrand
In anderen Produktionsbereichen wird munter daran geforscht, wie man über eine gezielte Rezeptur- und Prozessführung mikrobiologische Risiken (z. B. durch Salmonellen, Listeria monocytogenes und Campylobacter jejuni/coli) mindern kann. Dieses wachsende Fachgebiet wird als „predictive microbiology“ bezeichnet und findet seine praktisch-regulatorische Entsprechung darin, dass z. B. Lebensmittelhersteller, die für ihre Produkte nicht schlüssig darlegen können, dass eine weitere Vermehrung der z. B. der Listerien nicht stattfindet, methodisch und ökonomisch aufwändige, normengerechte Challenge-Tests vorlegen müssen.
Bei Arbeiten der vorhersagenden Mikrobiologie muss die Frage nach dem ALOP (Appropriate level of protection = angemessenes Schutzniveau) eines FSO (Food safety objective = betrachteter Parameter) beantwortet werden. Es wird damit im Lebensmittelbereich ein bestimmtes Schädigungsniveau akzeptiert und keine strikte Null-Risiko-Strategie gefahren. Bei Salmonellosen in den Niederlanden errechnet eine konkrete ALOP-Studie beispielsweise 128 Erkrankte und einen Todesfall auf 100 Millionen Individuen (STRATAKOU et al. 2016). Im Pharma-Bereich liegen dazu keine Erfahrungswerte vor.
ICH Guideline Q9 on Quality Risk Management
Die Erstfassung der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) von 2006 ist durch die Version von 2023 ersetzt worden und gibt einen guten Überblick über verschiedene, akzeptierte Systeme der Risikoerkennung und -lenkung (ANONYMUS 2023). Im Einzelnen werden in Annex 1 kurz besprochen:
FMEA – Failure Mode Effects Analysis
FTA – Failure Tree Analysis
FMECA – Failure Mode, Effects and Criticality Analysis
HACCP – Hazard Analysis and Critical Control Points
HAZOP – Hazard Operability Analysis
PHA – Preliminary Hazard Analysis
Tatsächlich erwähnt die o. a. Leitlinie die Begriffe „contamination“ und „microbial“ explizit nur in den Systemen HACCP und HAZOP. HACCP wiederum ist verpflichtend für die Lebensmittelproduktion und kommt ursprünglich aus den Sicherheitserwägungen der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA. Im Mittelpunkt steht hier, aus den detailliert abgebildeten prozessen genau diejenigen zu identifizieren und zu kontrollieren, die die Lebensmittelsicherheit final beeinflussen, z. B. die Temperaturführung innerhalb eines Pasteurs.
Die ICH-Leitlinie empfiehlt daneben in Annex I; I.1., bestimmte Grundtechniken anzuwenden, um das RA zu strukturieren:
Flowcharts
Check Sheets (Prüfbögen)
Process Mapping
Cause and Effective Diagrams (ISHIKAWA- oder Fischgrätendiagramme, ANONYMUS 2023)
Die oben dargestellten Methoden versuchen, echte und insinuierte Risiken möglichst objektiv zu erfassen, zu bewerten und zu lenken. Dabei werden häufig Zahlenwerte generiert, die dem Risiko entsprechen sollen. Hier kann gezeigt werden, dass eine direkte Korrelation zwischen dem jeweiligen Ergebnis und der persönlichen Risikowahrnehmung des Bewertenden zu verzeichnen ist (s. dazu auch die bahnbrechenden Erkenntnisse von Psychologen um Prof. Dr. Gerd GIGERENZER, langjähriger Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, z. B. 2007).
Wenn es um bestimmte Mikroorganismen in pharmazeutischen Produkten geht, hat sich als erste Näherung ein Vorgehen nach den Arbeiten von Scott SUTTON (z. B. 2006) bewährt.
Zusätzlich muss das veränderte Verbraucherverhalten berücksichtigt werden. Stichworte sind hier: Shitstorm, öffentliche Erregung, Leben in der virtuellen Blase (PÖRKSEN 2018).
100%ige Sicherheit gibt es bedauerlicherweise nicht. Passend dazu stellt der Mediziner und Kommunikationsmanager Prof. Dr. Klaus HEILMANN (2002) einem seiner Bücher ein SHAKESPEARE-Zitat aus „Macbeth“ voran: „Wisst, schon immer war Sicherheit des Menschen ärgster Feind.“
Teil 2 dieser Veröffentlichung wird u. a. konkrete Beispiele für Risikobewertungen/ Risk Assessment (RA) nennen.
Über den Autor:
Dr. Gero Beckmann
... ist Fachtierarzt für Mikrobiologie und berät nach langer, führender Tätigkeit in Auftragslaboren nun als freier Berater in den Bereichen Mikrobiologie und Hygiene.
Literatur:
Anonymus (2023): ICH guideline Q9 on quality risk management Step 5 vom 3.2.2023; EMA/CHMP/ICH/24235/2006 Committee for Medicinal Products for Human Use; zul. abgerufen 18.6.25
Beckmann G et al. (2003): An Investigation into the Microflora of Medicinal Plants during Growth and Harvesting – the Plant-associated Microflora of Melissa, Valerian and Parsley include Enterobacteria. - Pharmeuropa 15 (2), 291-298
Beckmann G; Berns M; Goos K; Bradtmöller B; Beermann C (2014): Experimentelle Untersuchungen zur Validität des sog. PN-Verfahrens nach Ph. Eur. zur semiquantitativen Bestimmung galletoleranter, gramnegativer Keime. Pharm. Ind. 76, Nr. 5, 780-786
Beckmann G (2015): Risikobewertungen von Mikroorganismen im pharmazeutischen Betrieb – Chance und Herausforderung. In: Concept Heidelberg (Hrsg.): Pharma-Technologie-Journal „Analytische Qualitätskontrolle und pharmazeutische Mikrobiologie“.175 – 187, ECV Editio Cantor Verlag, Aulendorf
Gigerenzer G (2007): Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. G. Bertelsmann, Gütersloh
Guardiola J (2015): Valsartan Skandal: Rechtliche Betrachtung – Teil 2, GMP-Journal v. 3.3.25, zul. abgerufen 18.6.25
Heilmann K (2002): das Risiko der Sicherheit. Hirzel Verlag, Stuttgart
Pörksen B (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Hanser Verlag, Berlin
Stratakou I, den Besten H, Zwietering M (2016): Predictive microbiology for spices and herbs. Berlin. Proc. Konferenz SPICED, 1.-2.6.16.
Sutton S (2006): How to determine if an organism is „objectionable“. - Pharmaceutical Microbiology Forum Newsletter 12, 2-9.